Mittwoch, 15. Juni 2011

I. Neue Erfahrungen

Als Richard aufwachte, konnte er sich kurzzeitig gar nicht erklären, warum er in seinem eigenen Bett lag. Bevor er seine Augen öffnete, wähnte er sich eigentlich noch in Saschas Bett, in dem der Abend seiner Erinnerung nach gestern geendet hatte.
Sein Rücken und seine Oberarme fühlten sich immer noch so an, als wären sie von unendlich vielen Ameisen übersät, die sich sporadisch alle gleichzeitig ein wenig bewegten und so ein angenehmes Kribbeln auf der Haut verursachen. Dieses Gefühl, dass auch entsteht, wenn man völlig ausgekühlt in eine heiße Badewanne steigt.
Der Abend, dessen Exzessivität Richard deutlich spürte, als er aus dem Bett stieg, um in der Küche Kaffee zu kochen, begann schon recht früh. Er war gerade ein Stockwerk höher bei seinem Mitbewohner Gerti gewesen, um von dessen frisch zubereitetem Rehkitzrücken mit selbstgemachtem Blaukraut und Serviettenknödeln zu probieren, als sein Handy klingelte.
„Wer ist da? Ich esse gerade…“, beantwortete er unhöflich den Anruf. „Hi Richard, hier ist Laura, störe ich dich etwa?“ Er bereute sofort, dass er häufig so unfreundlich ans Telefon ging.
Laura war eine gute Freundin von Richards damaliger Freundin Lixi. Schon bei seiner ersten Begegnung mit ihr hatte er das Gefühl, dass sie etwas ganz besonderes in ihm auslöste. Es war nicht so, dass er sich eine Liaison mit ihr hätte vorstellen können, aber sie hatte dennoch irgendetwas an sich, was ihm außerordentlich gut gefiel.
Die erste Begegnung mit ihr fand vor einem Club in der Innenstadt statt. Richard hatte Lixi dorthin begleitet, weil sie noch irgendjemanden dort treffen wollte. Richard stand die Unlust ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich noch nie viel aus Diskotheken gemacht.
„Diese Orte sind doch nur etwas für Proleten, die dort hingehen, um sich mit anderen minderwertigen Menschen zu paaren,“ sagte er einmal zu seinem besten Freund Gerti, als dieser unverständlicherweise zum wiederholten Mal die Weggehkultur in der kleinen, aber schönen Stadt, in der sie lebten, lobte.
In Wahrheit war es aber auch nicht so, dass er diese Art von Kultur grundsätzlich verteufelte. Allerdings machte er deutliche Unterschiede zwischen den Etablissements der kleinen Stadt, in der sich die Menschen seiner Meinung nach tatsächlich nur zulaufen ließen und zu schlechter Musik tanzten und der Weggehkultur in größeren Städten, wie zum Beispiel Berlin.
Dort kam ihm das Ganze auf eine bestimmte Art und Weise kultivierter vor. Die Leute trinken zwar auch viel Alkohol, der der Enthemmung vor dem darauf folgenden Paarungsritual diente, aber sie nahmen dazu noch unermessliche Mengen an Drogen. Das war Richard irgendwie sympathisch. Sich nicht nur dem dumpfen Alkoholrausch hinzugeben, sondern sich seine Sinne auch noch anderweitig zu betäuben. Sich eher empfänglicher für äußere Reize zu machen und sich nicht einfach zu besaufen, um am Ende überhaupt keinen Überblick zu haben.
An dem Abend, als er Laura zum ersten Mal traf, muss es gerade Frühling gewesen sein. Die Stadt hatte ihr graues Nebelkleid, dass sie über die Wintermonate zu tragen pflegt, abgelegt und war dabei, sich für den Sommer zurechtzumachen.
Man hörte untertags schon den ein oder anderen Vogel zwitschern und manche Bäume bildeten schon kleine, hellgrüne Knospen aus. In der Luft lag ein anderer Geruch als im Winter. Irgendwie frischer, wärmer, süßer. Man konnte den beginnenden Sommer in der kleinen Stadt auch daran erkennen, dass beinahe alle Frauen  begannen, sich so zu kleiden, als wäre es bereits 10 Grad wärmer. Fast so, als hätten sie sich untereinander abgesprochen,
Es wurden wieder Beine, Rücken und Brüste gezeigt – Richard fand das zwar eigentlich stillos, aber ganz kann man natürlich nie verleugnen, dass man ein Mann ist und auch die eigenen Hormone kämen nie auf diese Idee.
Lixi stellte Richard Laura vor, die gerade mit zwei nicht weiter erwähnenswerten Freundinnen vor dem „Scala“ stand und ging hinein. Richard wartete draußen und begann sich mit Laura zu unterhalten. Es war nicht so, dass sie besonders aus der Masse herausstach. Allerdings hatte sie die blauesten Augen, die er jemals gesehen hatte. Zusätzlich waren sie sehr oval; man würde so etwas wahrscheinlich als Mandelaugen bezeichnen. Er hatte derartige Augen noch nie bei einer Frau gesehen. Am ehesten noch bei einer Asiatin, allerdings kommt da ja noch die Schlitzigkeit dazu. Diese fehlte bei Laura. Ihre Augen waren einfach mandelförmig und riesig. Sie sah definitiv besser aus, als ihr Freund Fari, den Richard auch schon einmal gesehen hatte. Ein grobschlächtiger Typ mit sehr breitem Unterkiefer, der sich allerdings für einen zum Frauenschwarm geborenen Surfertyp hielt. Vielleicht war er das auch, aber Richard war noch nie in der Lage gewesen, die Vorlieben der meisten Frauen nachzuvollziehen. Er hatte in seinem Leben schon genug Frauen getroffen, die überwiegend an nicht gutaussehenden Männern interessiert zu sein schienen. Er hatte sich aber damit abgefunden, nachdem er lange darüber nachgedacht hatte, warum das so sein könnte. Am Ende kam er zu dem Ergebnis, dass wohl sehr vernünftige Überlegungen dahintersteckten. Seiner Meinung nach war es unzweifelhaft so, dass Männer sich sehr viel schneller auf Annäherungsversuche des anderen Geschlechts einließen, als Frauen.
Hat eine Frau nun einen Mann, der nicht besonders gut aussieht, ist die Chance, dass er von fremden Frauen angesprochen wird, äußerst gering. Er kommt also gar nicht in Versuchung, etwas mit anderen Frauen anzufangen, da andere Frauen keinen Kontakt zu ihm suchen und er selbst lieber im sicheren Hafen seiner eigenen Beziehung bleibt. Er ist seiner Freundin nämlich dankbar, dass sie ihn trotz ihres guten Aussehens genommen hat und ihn anscheinend tatsächlich liebt und ihr sein Äußeres egal ist.
Er hatte zwar das Gefühl, Laura auch zu gefallen, aber selbst wenn es so war, zeigte sie es nicht. Sie unterhielten sich über ein Problem, dass Laura mit ihrem damaligen Vermieter hatte.
Da Richard Jura studierte, war sie wie so Viele der Meinung, er könne jede juristische Fragestellung aus dem Stegreif beantworten. Dies ist natürlich ein Irrglaube. Denn nur weil jemand Jura studiert, heißt es natürlich nicht, dass er mit jedem Rechtsgebiet vertraut ist. Es genauso als würde man einen Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten fragen, wie man am besten seinen Fuß belasten soll, damit man beim Laufen die Schleimbeutelentzündung hinter der Kniescheibe nicht mehr spürt.
Dazu kommen noch andere Faktoren. Zum Beispiel, ob der Jurist, den man fragt, ein guter oder ein schlechter Student ist. Ob er sich erst am Anfang seines Studiums befindet oder ob es sich schon dem Ende zuneigt. Ob er an einer guten Universität studiert oder nicht. Und zuletzt, ob er überhaupt Interesse an seinem Studium hat oder nicht.
Es gibt genug Menschen, die in diesem Studium aufgehen. Richard gehörte nicht dazu. Er wäre lieber Arzt, Historiker, Musiker, Schriftsteller oder was auch immer gewesen, solange es nicht Jurist war. Sobald er an sein Studium dachte, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Aus was für kleinlichen, widerlichen und verbohrten Menschen diese Juristenmeute doch bestand.
Natürlich gab es auch viele „nette“ Menschen darunter, doch Richard hatte das Gefühl, im Verlaufe dieses Studiums immer mehr misanthropische Züge angenommen zu haben. Mittlerweile gab es tatsächlich nur noch selten Menschen, denen er ganz ohne Vorurteile gegenübertreten konnte. Mehr und mehr hatte er ein Misstrauen Menschen gegenüber entwickelt, dass er auch nicht mehr  mit Willenskraft überwältigen konnte.
In seiner Augen war die Welt voll von Speichelleckern, Opportunisten und leidenschaftslosen Einzelgängern, die die sich immer wiederholende Leistungsgesellschaft-Propaganda aufsogen wie Schwämme und sich genau nach den von ihnen erwarteten Mustern verhielten.
Oft fragte er sich, ob er selbst nicht auch so war. Immerhin stammte er aus einer mehr oder weniger wohlhabenden Familie und musste sich um finanzielle Dinge bisher keine Sorgen machen. Vielleicht waren die von ihm so verhassten Menschen nur so, weil sie ständig den allgegenwärtigen Druck verspürten, den die Gesellschaft ihnen aufbürdet?
Aber selbst wenn es so gewesen wäre, hätte das in seinen Augen keine Legitimation dargestellt, ein solches Leben zu führen.
Denn man müsse doch erkennen, dass dies kein erstrebenswertes Ziel darstellt. Wenn die Gesellschaft es wagen würde, einem ein solches Leben ohne wenn und aber, ohne Wahlmöglichkeiten zu diktieren, wie kann man diese Gebote dann einfach befolgen, ohne sie zu hinterfragen?
Richard fühlte sich immer unwohl, wenn er in solchen Gedanken schwelgte. Er hatte die Befürchtung, dass Überlegungen dieser Art von anderen als lächerlich abgetan werden könnte. Und auch wenn dies nicht passieren würde: Er war sicher nicht der einzige mit derartigen Gedanken. Höchstwahrscheinlich waren seine im Vergleich zu anderen unter einem philosophischen Gesichtspunkt eher minderwertig und von der Masse nicht zu unterscheiden. Von anderen würden sie wohl eher als „Gutmenschentum“ abgetan werden.
„In dieser Welt läuft man eigentlich ständig gegen Wände“ war auch so ein Gedanke, der ihm immer wieder in den Sinn kam.